Wenn man mit “Netzideologen” wie Michael Seemann über Privatsphäre redet, bekommt man Unerwartetes zu hören.
(Crosspost meines ersten Artikels aus dem Lehrveranstaltungs-Blog von Gesellschaftliche Aspekte der Informationstechnologie.)
Eigentlich würde man ja in “post-Snowden” Zeiten davon ausgehen, dass man sich, zumindest in Europa (ausgenommen England) einig ist, was man will (mehr Privatsphäre), und was nicht (Geheimdienste und Daten-gierige Großkonzerne). Dem haben Seemann (und einige andere) jedoch so manches entgegenzusetzen. Es handelt sich bei “post-Privacy” jedoch um einen Diskurs und keine fertig ausgearbeitete Ideologie.
Ein relativ offensichtliches, und auch immer wieder in Diskussionen auftretendes Argument, ist Big Data. Selbst wenn man den ökonomischen Nutzen von Daten (Werbung/Marketing?) ausklammert, ergeben sich interessante Möglichkeiten. Das fängt an bei Erkennung von Grippe-Wellen, wie es beispielsweise Google mittels Analysen von Suchbegriffen macht, und geht über Gen-Analysen (wie 23andMe) in eine Richtung, die noch nicht abschätzbare Möglichkeiten bieten könnte.
Weniger verbreitet ist das Argument des sogenannten Kontrollverlusts. Wer sagt, dass es in der heutigen Zeit, mit dem Ausmaß an Vernetzung, wie wir es heute haben, noch möglich ist, Informationen zu kontrollieren, und gleichzeitig nicht mit Aluhut am Kopf im faradayschen Käfig zu verschwinden? Zwar mag das eine gewagte Behauptung sein, aber wenn man beispielsweise an die beim Mobilfunk anfallenden Meta-Daten denkt, eine, die es sich zu durchdenken lohnt.
Ein weiteres interessantes Argument ist das Hinterfragen des Sinns von Privatsphäre. Zwar bestreiten wohl die wenigsten, dass diese auch heute noch ihre Daseinsberechtigung hat, jedoch lässt sich vieles, wo heute die Privatsphäre herhalten muss, eigentlich nicht mit dieser lösen. Was hat es beispielsweise mit Privatsphäre zu tun, wenn jemand Repression widerfährt, weil auf einem öffentlichen Twitter- oder Facebook-Account etwas unerwünschtes/verdächtiges gepostet wurde?
In diesem Diskurs fällt es oft schwer, sich auf die aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert stammende Definition von Privatsphäre zu beziehen. Besonders schön zeigt sich das am momentan in den USA laufenden Diskurs über eben jene Definition, in welchem versucht wird, die Gesetze des 20. Jahrhunderts (für Brief geschrieben, auf Telefon hingebogen) in das digitale Zeitalter zu bringen.
Natürlich sind viele dieser Überlegungen, und post-Privacy als solches, nicht wenig provokant, in Bezug auf Ethik auch nicht ungefährlich, und manche Argumente sogar mehr als nur theoretischer Natur. Ich halte jedoch sowohl den Diskurs für interessant, als auch das Mitdenken einiger dieser Gedanken in einem differenzierten Privatsphäre-Diskurs für wesentlich.