Ein Punkt, der in den Diskussionen rund um den Sexismus am BarCamp Graz online wie offline immer wieder auftaucht, ist die Tatsache, dass ein BarCamp gerne ein offener und hierarchiefreier Raum wäre. Leider ist dem meiner Meinung nach jedoch nicht so. Das ist im Zuge dieser Diskussion relevant, weil sich dadurch eine gewisse Verantwortung ergibt. Eine Verantwortung für den allgemeinen Ablauf, aber auch eine Verantwortung für ein sicheres Miteinander aller TeilnehmerInnen, und eben auch eine Verantwortung gegenüber sexistischen Zwischenfällen. Aber wie gehen wir mit Verantwortung in (scheinbar) hierarchiefreien (Frei)Räumen nun wirklich um?
Das Kernproblem in dieser Diskussion ist wohl die Annahme, dass ein Freiraum frei von Hierarchien wäre. Ob es nun ein BarCamp ist, eine Hausbesetzung oder die Wikipedia. Gerne wird von einem geschaffenen Raum behauptet, dass dieser über keine Hierarchien verfügt und alle gleichsam daran mitarbeiten und -bestimmen dürfen. Dem ist jedoch meistens nicht so. Schaut man sich die Wikipedia an, gibt es definitiv formelle Hierarchien und Machtstrukturen, auch wenn gerne anderes behauptet wird. Ein Admin hat nun mal mehr Rechte als ein “normaler” User.
Nicht mehr ganz so eindeutig ist es dann auf einem BarCamp, auf welchem dem Orga-Team eine spezielle Rolle zukommt. Es gilt ja der Grundsatz, dass ein BarCamp von allen teilnehmenden Personen gleichsam gestaltet werden kann/soll/muss. Man erhebt also den Anspruch, zwar “den Raum” bereitzustellen, den Rest jedoch sich selbst zu überlassen. Aber. Allein dadurch, dass jemand die Räumlichkeiten bereitstellt, entsteht eine erste Stufe der (formellen) Hierarchie. Wenn das Orga-Team dann auch noch für Essen sorgt, die Moderation übernimmt und die Session-Planung leitet, ist es schnell vorbei mit den vielzitierten Grundsätzen. Natürlich ist diese Hierarchie immer noch um einiges flacher, als sie auf anderen (meist professionelleren) Veranstaltungen besteht. Natürlich bestimmen die TeilnehmerInnen noch immer den Großteil des inhaltlichen Ablaufs (wenn man von der Richtungs-Angabe durch Camp- und Track-Motto absieht). Und natürlich ist Zivilcourage auch auf BarCamps wichtig.
Eine weitere Ebene von Hierarchien sind informelle Machtstrukturen. Seien es Menschen, die einfach lauter sind, als andere. Menschen, die mehr Zeit haben. Menschen mit “Connections”. Oder solche, die ihre Vorstellungen einfach besser artikulieren können. Diese Hierarchien sind insofern oft gefährlicher als die formellen Strukturen, da sie meist nicht sichtbar und in keinster Weise legitimiert sind. Sie entstehen häufig in Räumen, die sonst über keine (formellen) Strukturen verfügen. Informelle Machtstrukturen können aber auch Hierarchien auf formeller Ebene ergänzen oder gar ersetzen/unterwandern.
(Bezüglich zeitlich länger bestehender Räume sei noch Robert Michels’ Ehernes Gesetz der Oligarchie erwähnt.)
Die Frage nach der Verantwortung bzw dem verantwortlichen Subjekt ist also offenbar gar nicht so kompliziert. Wenn der Raum nur scheinbar hierarchiefrei ist, muss man einfach diese Hierarchien sichtbar machen und dadurch die Verantwortlichen identifizieren. Auf informeller ist das natürlich nicht mehr so leicht, aber auch dort sollte man von einer (selbst)reflektierten Gruppe erwarten können, sich diese Strukturen selbst einzugestehen und bewusst zu machen.
Ich glaube das wäre auch im konkreten Fall des BarCamp Graz angebracht. Zumindest in der derzeitigen Form. Natürlich kann man die Bemühungen, einen hierarchiefreien Raum zu schaffen, weiter verfolgen, muss dann jedoch auch über die bestehenden Strukturen diskutieren und bereit sein, diese zu ändern. Inwiefern das bei einem BarCamp sinnvoll ist, da eine komplett selbstorganisierte Veranstaltung in diesem Umfeld ja vermutlich schwer funktioniert, sollte man sich auch überlegen. Ich halte es jedoch für einen Fehler, schon so zu tun, als wäre ein BarCamp ein Raum frei von Hierarchien, und die Verantwortung somit auf “die Gesellschaft”/alle TeilnehmerInnen abzuwälzen. Auch wenn so ein Gedanke bei einem Raum mit diesen Ansprüchen vielleicht teilweise gerechtfertigt sein mag, wurde das bisher einerseits zu wenig kommuniziert und andererseits auch zu wenig angenommen. (Aber auch dieser Gedanke entsteht wieder aus einer gewissen Machtposition. Ein hierarchiefreier Raum kann nicht von ein paar Menschen erschaffen werden. Wenn dann von allen.)
Der erste, und vermutlich wichtigste, wenn auch für manche nicht leichte, Schritt sollte also sein, sich dieser Hierarchien und der sich dadurch ergebenen Verantwortung bewusst zu werden. Erst dann kann man versuchen, ein wenig daran zu ändern.
Natürlich kann man jetzt auch behaupten, dass wir in einer emanzipierten Gesellschaft leben, und dass die BarCamp Community aus einem noch emanzipierteren Teil dieser Gesellschaft besteht. Abgesehen davon, dass man auch darüber diskutieren kann, muss es natürlich nicht dem Orga-Team alleine überlassen bleiben, Missstände anzusprechen und aufzuzeigen. Natürlich glaube auch ich daran, dass wir prinzipiell in der Lage sind, mit solchen Problemen auch ohne “Eingriff von oben” umzugehen. Das ist jedoch nicht die Norm, da wir (manche mehr, manche weniger) eine solche Autorität bis zu einem bestimmten grad gewöhnt sind, und es nicht selbstverständlich scheint, auch mal aufzustehen, wenn man nicht im Orga-Team ist. Das funktioniert jedoch nicht, wenn die Gesamtheit der TeilnehmerInnen sich dessen nicht bewusst ist, was man wiederum teilweise dem Orga-Team zuschreiben muss..
Christian Stegbauer: Wikipedia. Das Rätsel der Kooperation // VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009 // 321 S. // 29,90 € (thx, @krrrhx)